Briefe & Berichte aus dem Erstaufnahmelager in Suhl I

“Nach einigen Tagen gingen wir wieder zum selben Arzt, und ich sagte ihm, dass meine Frau sagt, dass sich das Kind nicht mehr in Ihrem Bauch bewegt, und ich bat den Arzt erneut, meine Frau ins Krankenhaus zu schicken, sie antworteten erneut dasselbe und sagten, dass sie keine Probleme habe und wir sie nicht ins Krankenhaus schicken könnten”

Lager-Watch Thüringen liegen aktuell Briefe und Beschwerden von Bewohner*innen des Erstaufnahmelagers Suhl vor. Der folgende Brief wurde Mitte September verfasst. Wir haben ihn übersetzt, anonymisiert und seine Veröffentlichung abgestimmt. Der Brief beschreibt den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung der Lagerärzte und zeigt auf, warum eine Mutter ihr Kind nur noch tot zur Welt bringen konnte. Das Kind hieß Saam. Im Zusammenhang mit den im Brief beschriebenen Vorwürfen hatte die Familie und Mutter am 29.09.2020 Strafanzeige gegen den medizinischen Dienst im Erstaufnahmelager Suhl gestellt und war noch am selben Tag unmittelbar von der Gewalt durch die Security betroffen – wie der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. in seiner Pressemitteilung am 01.10.2020 öffentlich machte. Gemeinsam mit den Betroffenen erheben wir weiterhin schwere Vorwürfe. Wir fordern Gerechtigkeit und ein Ende des anhaltenden Status Quo unterlassener Hilfeleistung in dem Erstaufnahmelager Suhl. Der eindringlichste Wunsch der betroffenen Mutter war und ist, dass das was ihr passiert ist, keiner anderen Frau in dem Erstaufnahmelager Suhl je wieder passieren soll.

Brief des Familienvaters zur Situation seiner Frau und Familie nach dem Ankommen im Erstaufnahmelager Suhl

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich wurde mit meiner Frau und meinen zwei Kindern, aufgrund unserer Situation als besonders vulnerable Familie von der Bundesregierung aus Griechenland nach Deutschland eingeladen. Die Anerkennung unserer Situation als besonders Schutzbedürftige basierte auf den Krankheiten unserer minderjährigen Kinder, meiner schwangeren Frau und meiner eigenen Krankheit.
Zusammen mit drei anderen gefährdeten Familien mit kranken Kindern kamen wir im August in Suhl an und wurden im Lager aufgenommen. Der Verlauf der Schwangerschaft meiner Frau bis zu ihrem siebten Monat, bevor der Flug angetreten wurde, ist als gesund bestätigt worden. Kurz nach unserer Ankunft besuchten wir aufgrund extremer Schwellungen der Füße meiner Frau und starker Schmerzen auf ihrer linken Körperseite im Bereich der Schulter, des Arms, Hals/Nacken und des Kopfes, einen Arzt. Der Arzt erkannte diesen Zustand nicht als ernstes Problem an und unterzog meine Frau nur einem Urintest, dessen Ergebnisse uns bis heute nicht vorliegen. Ich bat den Arzt, meine Frau ins Krankenhaus zu schicken. Seine Antwort war, dass dies nicht nötig sei und sie keine ernsthaften Probleme habe. Seine Assistentin wiederholte dasselbe und sagte, dass meine Frau nicht ins Krankenhaus eingeliefert werden könne. Nach einigen Tagen gingen wir wieder zum selben Arzt, und ich sagte ihm, dass meine Frau sagt, dass sich das Kind nicht mehr in Ihrem Bauch bewegt, und ich bat den Arzt erneut, meine Frau ins Krankenhaus zu schicken, sie antworteten erneut dasselbe und sagten, dass sie keine Probleme habe und wir sie nicht ins Krankenhaus schicken könnten. Daraufhin wurde ich wütend und laut. Darauf bat der Arzt meine Frau, sich auf einen Stuhl zu setzen, damit er Ihren Blutdruck messen könne. Ihr Blutdruck war viel zu hoch. Wir fuhren dann mit einem Taxi zum Krankenhaus, wo sie einer Sonographie-Untersuchung unterzogen wurde und uns gesagt wurde, dass unser Kind tot sei.

Während des dreitägigen Krankenhausaufenthalts wurde meiner Frau das tote Kind aus ihrem Bauch entnommen. Erwähnenswert ist, dass meine Frau zu der Zeit, als sie im Lager war und Schmerzen im linken Teil ihres Körpers hatte, auch anmerkte mit dem linken Auge nicht klar sehen zu können. Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus verschlechterte sich ihr Sehvermögen auf dem linken Auge so stark, dass sie ihre Umgebung nur noch dunkel und neblig wahrnehmen konnte. Wir berichteten dem Lagerarzt davon, jedoch zeigte dieser tagelang keine Reaktion. Erneut gingen meine Frau und ich zum Arzt und berichteten ihm, dass meine Frau Probleme mit ihrem linken Auge habe, und erneut antwortete der Arzt, wir sollen weiter abwarten und schenkte uns weiter keine Beachtung. Wir sind letzte Woche zum Arzt und berichteten ihm von der Verschlechterung des Sehvermögens auf dem linken Auge.  Wir baten den Arzt, sie ins Krankenhaus zu schicken und sind dann selbst ins Krankenhaus gegangen. Ihr Auge wurde untersucht und geröntgt. Man sagte uns, dass ihr Auge schwer geschädigt sei und dass sie im Krankenhaus stationär aufgenommen werden müsse. Sie ist nach 8 Tagen immer noch im Krankenhaus und nicht geheilt. Der Arzt sagte uns, dass die Schäden dauerhaft sein könnten und durch den hohen Blutdruck verursacht worden seien, den der Arzt ignoriert und vernachlässigt hatte. Darüber hinaus habe ich selber Diabetes, und auch mein Gesundheitszustand wird in diesem Lager vernachlässigt. Mein Diabetes erreicht manchmal den Wert 500. Mir wird gesagt, dass so lange wir in diesem Lager sind, können wir keine medizinische Versorgung erwarten.
Deswegen schreibe ich diesen Brief an die zuständigen deutschen Regierungsstellen, um einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, Verständnis und Unterstützung zu geben. Ich bitte Sie verzweifelt, meiner Familie und den Familien, die in dieses Lager verlegt wurden, gleichermaßen zu helfen, eine gerechte und humanitäre Unterstützung zu erhalten, die wir brauchen, damit wir nicht länger diese menschenunwürdige Situation durchmachen müssen. Bitte verschaffen Sie meiner Stimme und der Stimme der anderen gefährdeten Familien in höheren Instanzen wie bei Frau Angela Merkel Gehör, dass wir durch die Nachlässigkeit der Ärzte im Lager unser Kind und meine Frau die Sehkraft ihres linken Auges verloren hat. Wir sind durch die Vorfälle schwer getroffen und möchten Sie um mehr Gerechtigkeit und Unterstützung bitten. Ich möchte darauf hinweisen, dass meine Familie und ich seit 20 Tagen in Deutschland sind und von dieser Zeit meine Frau zehn Tage im Krankenhaus verbracht hat und noch immer dort behandelt wird.

Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch meine 14-jährige Tochter, die Krampfanfälle hatte, bis sie acht Jahre alt war, und der in Griechenland die Gallenblase entfernt wurde, medizinische Behandlung und eine gesunde Ernährung benötigt. Auch andere Familien leiden und stehen vor großen Herausforderungen, da die medizinische Versorgung ihrer kranken Kinder nur unzureichend auf die Bedürfnisse ihrer Kinder ausgerichtet ist. Abschließend muss ich erwähnen, dass unter den gefährdeten Familien zum zweiten Mal ein Baby durch die Fahrlässigkeit der Ärzte totgeboren wurde. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Hilfe.

Herzlichen Dank