Die christliche Rechte im Jenaer Stadtrat

Als Lager-Watch Thüringen solidarisieren wir uns mit der Seebrücke Jena gegen die vorgebrachten Diffamierungen, gegen den grassierenden Rassismus im Jenaer Stadtrat und in der Jenaer Wohnungs- und Unterbringungspolitik.

Am 14. Juli fand im Jenaer Stadtrat eine Debatte über die Beschlussvorlage zur Verbesserung der Lebens- und Wohnbedingungen von Geflüchteten in Jena statt, die durch die Seebrücke Jena und dem Migrations- und Integrationsbeirat Jena miterarbeitet wurde. Dabei beschreibt der erfolgreiche Stadtratsbeschluss die stadtpolitische Umsetzung fundamentaler Grund- und Menschenrechte: dem Recht auf Wohnen und Privatsshpäre. Die Initiative stieß insbesondere auf den Widerstand der FDP und CDU. Stadtrat Stefan Beyer (FDP) erklärte, dass es den Menschen in den Jenaer Sammelunterkünften  gut gehe, viele Geflüchtete würden gar keine eigene Wohnung wollen. Neben der gewohnten stadtpolitischen Verglitterung der Einschränkung von Grund- und Menschenrechten und der Verhältnisse durch eine rassistische Unterbringungspolitik machte er damit in rassistisch-paternalistischer Manier sinngemäß deutlich, dass Geflüchtete die Zwangsvergemeinschaftung in Lagern verdient hätten, weil sie es ja gar nicht anderes wollen würden. Als die Seebrücke Jena ihm daraufhin Rassismus vorwarf, sprangen ihm die Jenaer Nachrichten zur Seite: Der „gescholtene Beyer“ ist „Pfarrer, spricht Arabisch, studierte in Ägypten, engagiert sich seit der großen Flüchtlingswelle 2015 ehrenamtlich für die Geflüchteten und hat dementsprechend einen persönlichen Bezug zu der Thematik.“[1]
Diese Charakterisierung greift allerdings reichlich kurz. Um Beyers politisches Engagement einordnen zu können und die offenbarte Lager- und Kontrollmentalität zu verdeutlichen, muss man sich näher mit seinen Überzeugungen befassen.  

Foto: Facebook-Profil Stefan Beyer

Politik und „christliche Weltanschauung“
Beyer ist Gründer, Pastor und Leiter der fundamentalistisch-evangelikalen Evangeliumsgemeinde Jena. 2018 veröffentlichte er einen Artikel, in dem er sein Selbstverständnis als christlicher Politiker näher erläuterte. Der Text unter dem Titel „Sollen Christen sich aus der Politik raushalten – oder haben sie auch eine politische Verantwortung?“ erschien zunächst im Timotheus Magazin (Nr. 32 3/2018), das der laut Selbstbeschreibung „konservativ-bibeltreue“ Verlag Betanien herausgibt. [2]
In seinem Artikel geht er darauf ein, unter welchen Bedingungen es für einen Christen infrage komme, sich politisch zu engagieren. Es sei wichtig, über eine „christliche Weltanschauung“ zu verfügen, die auf der Bibel basiere. Was das für ihn bedeutet, lässt sich anhand einer der zwei Personen erschließen, deren Veröffentlichungen er als „außerordentlich“ hilfreich bezeichnet. „Zum einen habe ich über die Jahre regelmäßig den täglichen Podcast von Albrecht Mohler namens ‚The Briefing‘ gehört. […] In seinem Podcast analysiert er die täglichen Nachrichten und kommentiert sie aus einer christlichen Weltanschauung. Dadurch hilft er seinen Zuhörern – wie zum Beispiel mir –, selbst über politische Fragen nachzudenken und sich auf der Grundlage eines biblischen Denkens ein Urteil zu bilden.“
 
Der Rassismus der christlichen Rechten
Um also zu verstehen, was Beyer unter einer christlich ausgerichteten Politik versteht, lohnt es sich, Albert Mohler etwas näher in den Blick zu nehmen. Als Präsident des Southern Babtist [3] Theological Seminary, einer Schlüsselinstitution für die Ausbildung baptistischer Pastoren in den USA, hat er nach anfänglicher Skepsis wesentlich dazu beigetragen die evangelikalen Christen hinter Trump zu versammeln. Er sah in Trump jemanden, der dazu bestimmt war, Gottes Plan auf der Erde umzusetzen – etwa durch die Besetzung des Supreme Court mit rechten Juristen, die auf Jahre hinweg eine den Konservativen genehme Rechtsprechung garantieren sollen.[4]
In seinen breit rezipierten Podcasts behandelt er das ganze Spektrum an Themen, die der US-amerikanischen religiösen Rechten am Herzen liegen: die angeblich zunehmende Christenverfolgung, die Übel einer vermeintlich trans*genderfreundlichen Politik, Abtreibung oder religiöse Freiheiten, die selbstverständlich nicht für Muslime, sondern für Christen eingefordert werden.[5] Wie tief die von Mohler vertretenen politischen Positionen allen Lippenbekenntnissen zum Trotz von rassistischen Überzeugungen geprägt sind, zeigen seine Reaktionen auf die Black-Lives-Matter-Proteste. In seinem Podcast und Veröffentlichungen machte er zuletzt die Critical Race Theory als eine große Gefahr für die US-amerikanische Gesellschaft aus. Seine Ablehnung rührt dabei daher, dass auf der Grundlage dieser Theorie auch das Christentum nach immanenten rassistischen Strukturen befragt wird. Das jedoch versteht Mohler als einen Angriff auf die Unfehlbarkeit der Bibel und der Reinheit des christlichen Glaubens.[6]
Dabei beschränkt er sich keineswegs nur auf publizistische Stimmungsmache. Als Präsident des Bibelseminars setzte er Anfang 2020 eine Resolution durch, die die Critical Race Theory aus baptistischen Bildungseinrichtungen verbannte. Öffentlich erklärte er: „We stand together in stating that we believe that advocating Critical Race Theory or Intersectionality is incompatible with the Baptist Faith and Message, and that such advocacy has no rightful place within an SBC seminary. I think it speaks loudly to Southern Baptists that we take this stand together.“[7]
Es ist selbstverständlich nicht möglich, auf der Grundlage Mohlers Veröffentlichungen Rückschlüsse auf konkrete Positionen Beyers zu ziehen. Es überrascht allerdings nicht, dass jemand, der Mohler als einen prägenden Einfluss nennt, wenig Bereitschaft zeigt, die eigene privilegierte Position kritisch zu reflektieren, und es stattdessen vorzieht, marginalisierte Gruppen paternalistisch zu bevormunden.
 
Ideologische Nähe zur amerikanischen Rechten
Dass Beyer allerdings grundsätzlich eine große ideologische Nähe zur christlichen Rechten in den USA hat, die vehement für eine Aufrechterhaltung weißer Privilegien kämpft und dabei in den letzten Jahren maßgeblich dazu beigetragen hat, die US-amerikanische Demokratie zu unterwandern und Minderheiten auszugrenzen, belegt nicht nur sein Hinweis auf Mohler. So nennt er Ron Kubsch seinen „Freund und Mentor“, der ihm auf seinen Weg in die Politik die entscheidenden Ratschläge gegeben habe. Kubsch ist Leiter des Martin Bucer Seminars in Bonn, eine evangelikale Bildungseinrichtung, die sich als Antwort auf eine bibelkritische und liberale Theologie versteht und dabei als eine Außenstelle des rechtskonservativ-evangelikalen Whitefield Theological Seminary in den USA fungiert. Auf seinem Blog macht er deutlich, dass er ein überzeugter Anhänger der Thesen Francis Schaeffers (1912-1984) ist.[8] Schaeffer wurde mit seinem Buch „How Should We then Live. The Rise and Decline of Western Thought and Culture“ (1976) zum Vordenker und Stichwortgeber einer sich ab den 1980er Jahren zunehmend politisierenden und radikalisierenden religiösen Rechten. Er argumentierte, Gesellschaften erlebten immer dann Fortschritt, wenn sie sich an christlichen Werten orientierten.[9]
In diese Richtung zielt schließlich auch die letzte Publikation, die Beyer in seinem Artikel als maßgeblich für den eigenen Politisierungsprozess benennt und die – wenig verwunderlich – wieder aus dem Umfeld US-amerikanischer Evangelikalen stammt: David VanDrunens Buch „Natural Law and the Two Kingdoms. A Study in the Development of Reformed Social Thought“. Van Drunen gehört zu den Vertreter [da gibt es nur männliche Vertreter] einer sich als neo-calvinistisch verstehenden Theologie, die dazu aufruft, die irdischen gesellschaftlichen Institutionen durch christliches Engagement, wie es die christliche Rechte versteht, zu erlösen. Den für ihn zentralen Gedanken fasst Beyer so zusammen: „Wenn wir kulturell (und politisch) aktiv werden, dann kommen wir unserem Schöpfungsauftrag nach und unsere kulturellen und politischen Werke haben in gewisser Hinsicht sogar heilsgeschichtliche Bedeutung, weil ihre Auswirkung bis in die Ewigkeit hineinreichen.“ Es geht Beyer also darum, Gesellschaften nach Vorstellungen der christlichen Rechten umzugestalten und nicht einfach auf eine kommende Erlösung zu warten.
 
Beyer und die FDP – Freiheit für Homophobie
Wenn für Beyer sein christlicher Glaube so zentral ist, warum ist er dann nicht der CDU beigetreten? Seine Antwort auf diese Frage ist aufschlussreich. Er habe zu einer Partei gehören wollen, „die eine klare Grundlage in der Freiheit“ habe, um sich „dann bei einzelnen Themen“ wie Homosexualität und Abtreibung „als Christ anders positionieren“ zu können. Zwar führt er seine Positionen zu diesen Themen nicht näher aus, doch findet man genügend Anhaltspunkte, um diese zu rekonstruieren.
So hat Beyer sich die Mühe gemacht, die LGTBQ-feindliche Nashville Declaration US-amerikanischer Evangelikaler aus dem Jahr 2017 zusammen mit seinem “Freund und Mentor” Kubsch, der sich auf seinem oben erwähnten Blog regelmäßig homophob äußert, ins Deutsche übersetzt  [10]. Die Deklaration formuliert ein repressives Bild von Ehe, die nur als “geschlechtliche, reproduktive, lebenslange Bundesbeziehung zwischen einem Mann und einer Frau angelegt” sein könne (Artikel 1). Sie wendet sich gegen “homosexuelle Unmoral oder Transgenderismus” und betont, dass dies keine “moralisch belanglose” oder “untergeordnete Meinungsfrage” sein könne (Artikel 10). Diese Übersetzungsarbeit zeigt nicht nur, wo Beyer selbst steht, sondern auch, dass es ihm ein Anliegen ist, die Ideologie der US-amerikanischen christlichen Rechten in gesellschaftliche Debatten diesseits des Atlantiks Gehör zu verschaffen.
Dementsprechend erklärte er in einer Predigt vor seiner Gemeinde: “Homosexualität ist das Kennzeichen einer Gesellschaft, die sich vollkommen von Gott losgesagt hat.” “Homosexualität – gelebte Homosexualität – […] ist im Prinzip die höchste Auflehnung gegen den Schöpfer, weil man sich gegen seine Schöpfungsordnung stellt.” Anschließend führte er aus, dass Sünde immer “einen schrecklichen Preis” fordere.  [11]. 
Aus all dem lässt sich schließen, dass Beyer die FDP als eine Partei versteht, die ihm die „Freiheit“ gibt, homophobe Positionen in seine politische Arbeit einfließen zu lassen. Dass jemand wie er im Jugendhilfeausschuss sitzt, ist deshalb ein Problem. Und auch die FDP muss Klarheit schaffen, ob sie Beyers Verständnis von Freiheit teilt. 
Vor diesem Hintergrund muss man auch Stefan Beyers “Flüchtlingsengagement”
deuten, das er selbst als Beleg dafür anführt, dass er gar nicht
rassistisch sein könne. Die Reflektion eigener Privilegien hat in dieser
Form des “Engagements” keinen Platz. Stattdessen sieht man in Geflüchteten
Objekte einer paternalistischen “Nächstenliebe”, um die man sich
kümmert, die man im besten Fall dazu bringt, den eigenen Glauben zu
übernehmen. Dabei geht es immer auch darum, Gesellschaften insgesamt auf der Grundlage einer fundamentalistischen Ideologie umzugestalten.
Quellen:
[2] 2019 wurde der Artikel leicht verändert auf dem Josia-Portal veröffentlicht: https://www.josia.org/2019/05/sollen-christen-sich-aus-der-politik-raushalten-oder-haben-sie-auch-eine-politische-verantwortung/. Auf dieser Fassung basiert die folgende Analyse.
[3] Die Southern Baptists gründeten sich Mitte des 19. Jahrhunderts, weil sie es für ihre christliche Pflicht hielten, für die Beibehaltung der Sklaverei zu kämpfen.
[4] Die englischsprachige Literatur zur evangelikalen Unterstützung für Donald Trump ist kaum noch zu überblicken. In Deutschland erscheint demnächst bei Rowohlt von Annika Brockschmidt das Buch „Amerikas Gotteskrieger. Wie die religiöse Rechte die Demokratie gefährdet“ (https://www.rowohlt.de/buch/annika-brockschmidt-amerikas-gotteskrieger-9783499006487). 
[6] Siehe z.B. Albert Mohler, „Black Lives Matter: Affirm the Sentence, Not the Movement“, 6.7.2020, https://albertmohler.com/2020/07/06/black-lives-matter-affirm-the-sentence-not-the-movement
[7] Zitiert nach „Al Mohler says Critical Race Theory has no place in the Southern Baptist Convention, 7.12.2020, in: https://www.standingforfreedom.com/2020/12/07/al-mohler-says-critical-race-theory-has-no-place-in-the-southern-baptist-convention/
[9] Vgl. Frances Fitzgerald: The Evangelicals. The Struggle to Shape America. New York 2017, passim.