Briefe & Berichte aus dem Erstaufnahmelager in Suhl VI

Seit knapp sechseinhalb Monaten lebt eine junge afghanische Familie im Lager in Suhl. Die Mutter der Familie mit Kind sitzt nach einem schweren Unfall im Rollstuhl. Aufgrund der schwierigen Lebensumstände in Griechenland und den durch ärztliche und therapeutische Schreiben im Auftrag des UNHCR beschriebenen besonderen medizinischen und psychosozialen Bedarfen ist die Familie Ende 2021 nach Deutschland weitergeflüchtet und sitzt seither im Lager in Suhl fest. Der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. veröffentlichte am 5. Mai eine Pressemitteilung zum Fall. Seither hat sich trotz Versprechungen noch immer nichts bewegt und die Familie sitzt weiterhin ohne fachmedizinische Behandlung und mit allen Einschränkungen ihrer Lebensumstände unter den Bedingungen einer von Anfang bis Ende strukturell erniedrigenden und menschenunwürdigen Behandlung im Lager fest. Wir trafen die Familie bei unseren vergangenen Swarming-Besuch und twitterten bereits kurz auch zu ihrem Fall.

Laut EU-Aufnahmerichtlinie Artikel 21 & 22 hätten die besonderen Bedarfe der Mutter und der Familie rechtzeitig identifiziert und berücksichtigt werden müssen. Ihre Bedarfe wurden massiv missachtet, wie ein Brief und die Schilderungen der Familie eindrücklich beschreiben. Laut § 47 AsylG (Aufenthalt in Aufnahmeeinrichtungen) dürfen Familien mit minderjährigen Kindern nicht länger als 6 Monate dazu verpflichtet werden, in der Erstaufnahmeeinrichtung zu leben.

Das Land Thüringen und untergeordnete Verantwortungsträger:innen befinden sich im konkreten exemplarischen Fall – wie in weiteren Fällen aktuell und zuvor – nach Einschätzungen von Lager-Watch Thüringen und Expert:innen im permanenten Rechtsbruch mit geltendem Recht. Ihre Lebensumstände beschreibt die Familie in einem Brief vom 9. Mai selbst. Der Brief liegt Lager-Watch Thüringen im Original auf Farsi vor.

Wir haben den Brief des Familienvaters und der Familie übersetzt, anonoymisiert und angepasst:

Brief der Familie vom 9. Mai 2022 mit Nachtrag vom 10. Mai 2022

Ich bin N. aus Afghanistan und lebe seit mehr als sechs Monaten mit meiner Frau und meinem Sohn im Lager in Suhl. Meine Frau sitzt im Rollstuhl und hat viele körperliche und psychische Probleme, die regelmäßig von Fachärzten überwacht werden sollten. Im Lager Suhl sind die medizinischen Einrichtungen sehr begrenzt und der Zustand meiner Frau verschlechtert sich von Tag zu Tag. Nach dem Gesetz, von dem die Sozialbetreuung des Lagers spricht, müssen wir an eine feste Adresse ziehen und uns in der Stadt anmelden, damit wir krankenversichert sind und einen Spezialisten aufsuchen können, aber dieser Prozess dauert dann noch Monate, sagen sie, und die Situation meiner Frau und meiner Familie wird von Tag zu Tag schlechter.

Heute warten wir seit sechs Monaten und zehn Tagen wegen des körperlichen und seelischen Zustands meiner Frau darauf, aus dem Lager Suhl verlegt zu werden, um ein neues Zuhause zu finden! Wie kommt es, dass sie nur für uns kein Zuhause finden?! Was ist der Unterschied zwischen uns und ukrainischen Familien?

Im Lager Suhl ist die Situation der Geflüchteten sehr bedauerlich. Das Verhalten einiger Sicherheitskräfte und des Personals des Lagers ist erniedrigend und der Umgang ist sehr schlecht. Es gibt keine Privatsphäre im Lager. Die Essensausgabe und das Essenssystem des Lagers sind sehr erniedrigend. Es wird abschätzig verteilt. Das Abendbrot besteht aus drei kleinen Toasts und Butter, was überhaupt nicht zufriedenstellend ist. Es gibt keine Geschäfte rund um das Lager Suhl und um Brot und Grundbedarfsartikel zu kaufen, muss man mit dem Bus ins Stadtzentrum von Suhl fahren.

Niemand kann diese Situation tolerieren, geschweige denn eine körperbehinderte Person im Rollstuhl, die länger als sechs Monate in diesem Zustand gehalten wird!

Die täglichen Probleme meiner Frau in diesem Lager sind vielfältig. Sie ist vollständig eingeschränkt und braucht sogar Hilfe beim Sitzen und beim Gang zur Toilette. Zum Urinieren muss sie sich hinlegen aber es gibt keine geeigneten Einrichtungen für Menschen mit Einschränkungen in den Toiletten und Bädern des Lagers. Wir bekamen einen Eimer und eine Plastiktüte zum Urinieren. Wir baten die Sozialbetreuung wiederholt, uns Windeln für Erwachsene zu geben, aber sie sagten nein. Wir bitten um Windeln und Feuchttücher für meinen kleinen Jungen und sie sagen: Ihr Kind ist groß und alt genug!

Die Essensausgabe erlaubt mir nicht, das Essen meiner Frau auf ihr Zimmer zu bringen. Sie sagen: sie muss kommen und im Essenssaal essen. Wir dürfen kein Essen mit auf das Zimmer nehmen und wir dürfen auch nichts im Zimmer kochen.

Nach vielen Nachfragen gaben sie bekannt, dass sie eine Wohnung für uns in der Stadt Suhl suchen würden, obwohl die Stadt Suhl für meine Familie nicht über angemessene medizinische Einrichtungen verfügt. Meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester leben in Berlin. Diese könnten meiner Frau und meinen Kindern eine große Hilfe sein. Deshalb bitte ich darum, uns nach Berlin oder zumindest in die Stadt Erfurt zu schicken, damit es für meine Familie aus Berlin leichter ist, anzureisen und sich um meine Kinder zu kümmern.