“Da wird auf jedes Kinderrecht gespuckt.”

“Manche Kinder sind sieben Monate da. Die dürfen nicht zur Schule, dürfen nicht zum Kindergarten, nichts. Da wird auf jedes Kinderrecht gespuckt.”

In seinen Blogs Gefährdetes Leben und My home is not safe schreibt Nikolai Huke über den Alltag und Protest in Flüchtlingsunterkünften während der Corona-Pandemie. Er führte Interviews unter anderem mit Bewohner*innen des Erstaufnahmelagers Suhl. Albina Akhmedova (Autorin des Blogs Zeitreisende) spricht im Interview über Erfahrungen und Erlebnisse während der Corona-Pandemie in dem Erstaufnahmelager Suhl.

Interview – Albina Akhmedova über die Situation von Frauen, Kindern und Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl während der Corona-Pandemie

Nikolai Huke: Wie haben Sie Ihren ersten Tag in der Flüchtlingsunterkunft erlebt?

Albina Akhmedova: Das erste, was ich gehört habe, waren Schüsse. Neben der Flüchtlingsunterkunft befindet sich ein großer Schießplatz. Ich geriet in Panik, ich hatte vorher zwei Jahre ohne dieses Geräusch gelebt und plötzlich war es wieder da, ziemlich laut. Ich wusste gar nicht, wo ich gelandet bin. Das war eine psychische Reaktion auf das Geräusch. Du verstehst, dass es in Deutschland keinen Krieg gibt und es sollte eigentlich nicht gefährlich sein, aber allein dieses Geräusch setzt dich unter Stress. Das Geräusch war eigentlich jeden Tag da, auch mit geschlossenem Fenster. Mein erster Wunsch war: Weg hier. Ich weiß nicht, wer sich so etwas ausgedacht hat. Zur Stadt sind es zu Fuß ungefähr dreißig, vierzig Minuten. Eine Möglichkeit, den Bus oft zu benutzen, hat man eigentlich nicht so richtig, denn man bekommt nur fünfzig Euro alle zwei Wochen. Darin ist aber alles eingeschlossen, was man braucht. Wenn jemand zum Beispiel ohne Klamotten gekommen ist, muss er sich für dieses Geld Sachen kaufen. Das heißt: Die meisten laufen durch den Wald in die Stadt.

Was ist danach passiert?

Ich bin direkt in Quarantäne gelandet, in so genannter Kohorten-Quarantäne. Das heißt die Leute werden stockwerkweise getrennt und jede Etage darf nur untereinander kommunizieren. Trotzdem stehen alle gemeinsam in einer Schlange, um Frühstück, Mittag- und Abendessen zu bekommen. Alle Menschen spazieren zusammen auf einem sehr engen Hof. Da ist tatsächlich sehr wenig Platz. Die Menschen blieben bis zu drei Wochen in Quarantäne, auch wenn sie zweimal negativ auf Corona getestet wurden. Gleichzeitig waren alle ständig in Kontakt. Es war also keine richtige Quarantäne.

Ein Beispiel dafür ist die Geldausgabe: Alle zwei Wochen müssen alle in einem riesigen Saal warten von ein bis vier Uhr. Es gibt Abstandsregeln, alle haben Masken auf, egal ob Schwangere oder Kinder. Alle werden in den gleichen Saal gesetzt zur gleichen Zeit und dann werden zehn Menschen aufgerufen und bekommen ihr Geld und gehen in das Wohngebäude zurück. Und so weiter. Wieder zehn Menschen. Wieso müssen alle zusammen in einem Saal sitzen, statt dass es irgendwie Zeiten für verschiedene Stockwerke und Etagen gibt, dass die Menschen nicht vier Stunden mit Maske da sitzen müssen?

Wie war die Zimmersituation?

Ein sehr großes Problem ist, dass du normalerweise keinen Schlüssel für dein Zimmer bekommst. Ich habe nachts immer einen Schrank vor die Tür geschoben, weil ich Angst hatte. Der war schwer. Das war zwar ein Gebäude, in dem Familien untergebracht waren, es gab aber auch in den Familien Männer, mit denen ich mich unsicher gefühlt habe. Ich hatte tatsächlich Angst, dass jemand kommt und musste jedes Mal den Schrank vor die Tür schieben.

In der Unterkunft waren unter den etwa 600 Menschen etwa zwanzig Männer, die ständig gesoffen und Drogen konsumiert haben. Einmal haben am Eingang Männer versucht, mich zu beleidigen, haben Scherze und Witze gemacht. Ich habe ihnen dann gesagt, sie sollen nach Hause in ihre Zimmer gehen und sich ausschlafen. Sie haben sich dann aufgeregt und versucht, mich anzufassen. Ich habe mich zur Wehr gesetzt und einem die Hand umgebogen. Der fühlte sich dann gekränkt, weil eine Frau ihm wehgetan hat. Ich und die Security-Mitarbeiter, die dabei waren, haben versucht, ihn und seine Freunde zu beruhigen. Aber es hat dann immer wieder aggressive Augenblicke gegeben und sie haben versucht mich zu beleidigen. Am Tag kann ich mich schon irgendwie beschützen, aber nachts, wenn man schläft und seine Tür nicht zumachen kann, das ist für Frauen ein ziemlich großes Problem.

Wie ist der Alltag für Kinder in der Unterkunft?

Dieser Ort ist für Kinder nicht geeignet. Es gibt Kinder, so zwölf, sechs, zwei Jahre und die haben keine Spielzeuge. Für das Quarantänegebäude gibt es keinen Spielplatz, den gibt es nur neben dem Familiengebäude. Während der Quarantäne von zwei, drei Wochen können die Kinder nicht einmal irgendetwas spielen oder sonst was. Die Erwachsenen haben in Quarantäne auch keine Bücher. Nichts. Also in Quarantäne hast du keine Möglichkeit, dich zu beschäftigen. Du kannst nur hin und her laufen. Das ist wie im Gefängnis, wie im Knast. Du läufst nur hin und her und die einzige Möglichkeit, die du hast, ist vielleicht, wenn du ein Handy hast, dann kannst du im Internet surfen oder etwas lesen. Das ist die einzige Möglichkeit.

Im Familiengebäude gibt es zwar ein Spielzimmer für Kinder. Das sind sechs Zimmer, die eigentlich dazu gedacht sind, dass die Kinder da Zeit verbringen können. Es gibt dort Kinderbücher, Kinderspielzeuge, alles liegt bereit, wunderbar. Das einzige Problem: Das Kinderspielzimmer ist ständig zu. Es wird nur geöffnet, wenn Leute von außen kommen und dann wird gezeigt: Wir haben hier ein wunderbares Spielzimmer, es ist sauber, hier gibt es Spielzeuge. Während der zwei Monate, die ich in der Erstaufnahmeeinrichtung verbracht habe, war einmal eine Sozialarbeitern eine Woche lang zwei Stunden pro Tag da und das Zimmer war so lange geöffnet. Aber die ganz andere Zeit sind die Kinder nicht beschäftigt. Manche Kinder sind sieben Monate da. Die dürfen nicht zur Schule, dürfen nicht zum Kindergarten, nichts. Da wird auf jedes Kinderrecht gespuckt.

Im Quarantänegebäude gab es zwei Fußbälle für alle Kinder, die dort lebten. Keinerlei anderes Spielzeug. Als ich in eine andere Unterkunft transferiert wurde, habe ich Spielzeuge gesammelt und mich sehr gefreut, sie den Kindern zu schicken. Ich dachte, damit kann ich diese Scheißsituation zumindest an einem Punkt verbessern. Wegen der Corona-Verordnungen durfte ich nicht selbst in die Unterkunft, um die Spielzeuge zu verteilen. Die Spielzeuge wurden deshalb den Sozialarbeitern übergeben. Ich wollte, dass sie sie an die Kinder ausgeben. Den Sozialarbeitern wurde mitgeteilt, dass sie sie nicht einfach nur in das Kinderzimmer legen sollen, es sollten Geschenke sein, die direkt an die Kinder gehen. Es waren vier Säcke mit Spielzeugen. Das heißt, jedes Kind konnte mindestens ein Spielzeug bekommen. Die Spielzeuge stehen jetzt immer noch in einem so genannten Verteilungsraum. Es wurde gesagt: ‚Wir haben zu wenig Mitarbeiter. Wir haben nur einen Mitarbeiter, der diese Sachen sortieren kann.‘

Das Essen ist auch ein Problem: Bis sie eineinhalb oder zwei Jahre alt sind, bekommen Kinder das gleiche, was deutsche Kinder auch essen. Ab zwei Jahren müssen sie dann das Essen für Erwachsene essen. Das ist oft scharf und übersalzen. Ich habe oft gesehen, dass Kinder einfach nur beim Essen saßen und weinten. Selbst für mich war das Essen sehr scharf. Bei denjenigen, die aus Ländern kommen, wo scharfes Essen normal, kann ich mir vorstellen, dass die Männer so etwas essen. Aber für Kinder war das tatsächlich ziemlich schlimm.

Mangelhafte medizinische Versorgung mit teilweise fatalen Folgen für körperliche und seelische Gesundheit

In den letzten Tagen erreichten das MediNetz Jena e.V. Nachrichten über
die erneuten Notstände im Erstaufnahmelager Suhl. In Bezug auf die vorangegangene Pressemitteilung des Flüchtlingsrates Thüringen e.V. vom 01.10.2020 veröffentlicht das MediNetz eine eigene Pressemitteilung und Stellungnahme zur medizinischen Versorgung im Erstaufnahmelager Suhl.

PRESSEMITTEILUNG des MediNetz Jena e.V. vom 07.10.2020

Vermehrt kommt es in der Unterbringung zu nicht korrekten bis hin zu
mangelhaften medizinischen Versorgungen der Bewohner:innen mit teilweise
fatalen Folgen für deren körperliche und seelische Gesundheit.
Beispielsweise wurden einfach objektivierbare Symptome von dort Lebenden
nicht als solche anerkannt und nicht untersucht, sondern als Täuschung
gewertet, welche nur das Ziel verfolge, schneller das Lager verlassen zu
können. Diese Denkweise, welche in einem medizinischen Handlungskontext
die Neutralität bezüglich politischer Meinungen nicht einhält, ist zum
einen zutiefst rassistisch und stellt dazukommend eine Unterlassung
ärztlicher Hilfeleistung dar. In mindestens einem Fall führte diese
unterlassene ärztliche Hilfeleistung zum Tod.

– Zu unterlassener Hilfeleistung zählt, wenn Hilfesuchende nicht
angesehen und beschriebene Symptome nicht objektiviert werden z.B. durch
eine körperliche Untersuchung oder Messung der Vitalparameter

– Zu unterlassener Hilfeleistung zählt, wenn den Patient:innen
Untersuchungsergebnisse vorenthalten werden.

– Zu unterlassener Hilfeleistung zählt, wenn sich trotz klinisch
eindeutiger gefährdender Zeichen sich nicht um eine Anschlussbehandlung,
Überweisung oder adäquate Sprachmittlung gekümmert wird.

Das eben beschriebene entspricht direkten Schilderungen von Menschen,
die in Suhl untergebracht und auf medizinische Hilfe vor Ort angewiesen
sind. Zusammenfassend ist kein Wille durch das dort agierende
medizinische Personal zu erkennen, die Menschen medizinisch adäquat zu
behandeln. Dies ist fahrlässig, verantwortungslos und falsch.

Medizinische Gesundheitsversorgung stellt nicht nur ein Grundbedürfnis
eines jeden Menschen dar, sondern auch ein Grundrecht. Dies ist im
Artikel 25 der Charta der allgemeinen Menschenrechte niedergeschrieben.
Die eben beschriebenen Geschehnisse zeigen die eindeutige Verletzung
dieses Rechtes durch die BRD und den Freistaat Thüringen, vermittelt
durch das medizinische Personal der EAE Suhl.

Die Menschen in den Sammelunterkünften sind nicht krankenversichert.
Somit werden nur akute Erkrankungen und Notfälle vom Sozialamt
finanziert. Der Leistungskatalog ist im Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) festgelegt, jedoch werden zum Beispiel psychische Erkrankungen
oder akute psychische Traumata als nicht akut behandlungsbedürftig
definiert. Dies ist nicht nur empathielos, sondern auch medizinisch
falsch. Die oben beschriebenen Situationen lassen nur vermuten, welchen
Leidensdruck Asylbewerber:innen haben und wie diese durch das staatliche
Handeln – in diesem Falle Nicht-Handeln bzw. Unterlassen – potenziert
werden. Indem das Sicherheitspersonal, wie in der Stellungnahme des
Flüchtlingsrates Thüringen e.V. beschrieben, sowohl körperliche als auch
psychische Gewalt gegenüber den Bewohner:innen anwendet, wird die
sowieso schon durch strutkurellen Rassismus bestehende medizinische
Unterversorgung noch bewusst potentiert und weitere Gefährdungen
verursacht. Dadurch können Retraumatisierungen oder neu verursachte
Traumata mit erheblichen langfristigen Folgen auftreten. Im schlimmsten
Fall kann dies zu selbstverletzendem Handeln führen. Auch psychische
Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht!

Die aktuell herrschenden Zustände sind unzumutbar. Wir fordern aus
aktuellen Anlässen

1. kompetentes medizinisches (pflegerisches und ärztliches) Personal vor
Ort, sowie neutrale Sozialarbeiter:innen

2. eine auch in Notfällen erreichbare Sprachmittlung

3. unvoreingenommenes, auf rechtsradikale Absichten und Rassismus
überprüftes Sicherheitspersonal

Unsere Forderungen – die Umsetzung der Menschenrechte – sollten eine
Selbstverständlichkeit darstellen! Die Tatsache, dass eine Einhaltung
medizinischer Mindeststandards nicht gegeben ist, ist zutiefst beschämend.

Beispiele für gelungene Umsetzungen gibt es genug. Am Jenaer Uniklinikum
können über das Internet Dolmetscher angefordert werden, die durch
Telematik innerhalb weniger Minuten verfügbar sind. Im gesamten Land
Thüringen können nicht krankenversicherte Personen medizinische
Versorgung durch eine Finanzierungsgarantie beim “Anonymen Krankenschein
Thüringen” (AKSt) beantragen und somit je nach medizinischem
Handlungsbedarf einen Arzt aufsuchen. Es stellt sich die Frage, warum
der AKST nicht mit der Versorgung der Erstaufnahmeeinrichtung beauftragt
und mit entsprechenden Mitteln ausgestattet wird. Erfahrungen in der
Versorgung Nichtversicherter liegen seit 2017 vor.

*Wir appellieren an die Politik und fordern sofortiges Handeln!*